007
21.08.2006, 19:09 Uhr
Hutzel
TNS Counter
|
Der offensive Thurgauer und die sture Bretonin
Marc Christen und Anne-Claire Maillard: Neue Sieger beim neunten one-eleven inlineskating.
Mit dem Thurgauer Marc Christen gewinnt zum ersten Mal ein Ostschweizer das längste Inline-Rennen Europas.
jürg ackermann
In St. Gallen begegnen sich in dieser Nacht zwei verschiedene Welten. Während um zwei Uhr morgens zwischen Bohl und Blumenbergplatz noch immer viele tanzen, flirten und zum Teil bis zum Erbrechen feiern, liegen die Inlineskater schon längst im Schlafsack. Vielleicht träumen sie von Sonnenschein und trockenen Strassen. Vielleicht von einer persönlichen Bestzeit. Sicher ist: Ihr Körper braucht vor dem härtesten Rennen Europas Ruhe und Entspannung. Rund 250 der 1100 Teilnehmer übernachten im Massenlager auf dem Olma-Areal. Der Rest verbringt die Nacht vor dem Inline-Rennen in St. Galler Hotels, in der Jugendherberge oder – wie Marc Christen – zu Hause.
Christens zweitwichtigster Sieg Der Thurgauer geht «wie immer» um elf Uhr ins Bett. «Vier bis fünf Stunden Schlaf genügen», sagt er, der seit Wochen nur ein Ziel kennt: Das one-eleven nach zwei dritten Plätzen in den vergangenen Jahren endlich zu gewinnen. Seit drei Tagen hat er nicht mehr trainiert, um alle Energie auf den Wettkampf zu konzentrieren. Der Plan geht auf. Christen lässt sich auch nicht aus dem Konzept bringen, als sich eine vierköpfige Fluchtgruppe bei Ottoberg mehr als eine Minute Vorsprung erarbeitet. Der Ostschweizer, der bisher noch keinen one-eleven verpasste, organisiert die Aufholjagd, die schon vor der zweiten Passage in Altnau vom Erfolg gekrönt wird.
Christen lässt seinen Konkurrenten in der Folge keine Ruhe mehr. Beim härtesten Aufstieg des Rennens in Lömmenschwil können sie dem Fahrer des World-Inlinecenter-Teams nicht mehr folgen. Er, der selber in der Nähe wohnt, kennt die Strecke wie kein anderer. Jede Kurve, jede Unebenheit hat er sich in den vergangenen Wochen eingeprägt. «Ich habe den Heimvorteil ausgenutzt und in einer Kurve attackiert. Das war mit Risiko verbunden, doch es hat sich bezahlt gemacht», wird er später im Ziel sagen, nachdem ihm in der happigen Schlusssteigung nach St. Gallen keiner mehr folgen konnte. Der 26-jährige Thurgauer schwebt im Dauerregen dem Ziel in St. Gallen förmlich entgegen. Die Aussicht auf den zweitgrössten Erfolg seiner Karriere beflügelt ihn. Nur der Weltcup-Sieg vor zwei Jahren in Nizza stuft er noch höher ein. «Fantastisch, einfach fantastisch, dass ich gewonnen habe. Das Gefühl ist unbeschreiblich», sagt Christen, der im Zielgelände auf dem Olma-Areal Gratulationen entgegennimmt und Autogramme verteilt. Der Thurgauer ist bei der neunten Austragung nach Nicolas Iten im Vorjahr erst der zweite männliche Schweizer one-eleven-Sieger – und der erste aus der Ostschweiz überhaupt.
Kleine Französin – grosser Wille Auch der Sieg von Anne-Claire Maillard ist eine Premiere. Die Französin ist nach dem fünften Platz im Vorjahr erst zum zweiten Mal in St. Gallen am Start. Die 22-jährige Wirtschaftsstudentin aus Rennes, die derzeit ein Praktikum in der Schweiz absolviert und für das Inlineteam St. Gallen startet, hat vor zwei Wochen auf dem Klausen gewonnen und ist auch in der Ostschweiz nicht zu bremsen. Sprints mag sie nicht, ihr Elixier sind giftige Aufstiege und lange Distanzen. «Wir Bretonen sind manchmal ein bisschen verrückt. Wenn wir uns etwas in den Kopf gesetzt haben, dann ziehen wir es auch durch. So stur wie Asterix und Obelix», sagt die klein gewachsene Französin mit dem grossen Willen, die nach der Zielankunft erst einmal zum Arzt muss. Ein Sturz bei einem Verpflegungsstand hat ihr Gesicht an zwei Stellen aufgeschürft.
Ein glücklicher Amerikaner Ohne Sturz und Schürfungen hat Geoffrey Faraghan das Rennen beendet, der wie Maillard zu der steigenden Zahl von Startern aus dem Ausland gehört. Mittlerweile machen sie fast 40 Prozent des ganzes Feldes aus, das in diesem Jahr gegenüber 2005 um 200 Teilnehmer schrumpfte. Der 49-jährige aus San Francisco klassiert sich bei seinem ersten one-eleven auf dem beachtlichen 80. Rang. Er habe in den USA von diesem «wunderbaren Rennen» gehört und den Start in St. Gallen mit der Teilnahme beim Einrad-Weltkongress in Langenthal und einem Besuch bei Bekannten in der Ostschweiz verbunden. Der Kalifornier, der auch durch die Schweiz reiste, findet hierzulande so ziemlich vieles «beautiful», auch die 111 Kilometer lange Strecke zwischen Bodensee und Gallus-Stadt, zwischen Kuhweiden und Dorfbrunnen.
Als Faraghan kurz nach sieben Uhr Richtung St. Gallen West rollte, kehrten die letzten Festbesucher, zum Teil schwankend, nach Hause. Der Amerikaner dagegen hält trotz glitschigem Asphalt Gleichgewicht und Rhythmus. Kurz vor elf Uhr skatet er über die Ziellinie und freut sich: «Ich wollte unter vier Stunden ins Ziel kommen. Das hab ich geschafft.»
Copyright © St.Galler Tagblatt |